„Ambulante Behandlungsweisung“ So nicht – bitte anders!

Es sieht so aus, also ob in Baden-Württemberg die Weichen gestellt werden sollen, eine ambulante Zwangsweisung zu ermöglichen. So lautetet jedenfalls der Titel der 33. Ethiktagung, welche am 10.10.23 in Zwiefalten stattfand.

In dieser Veranstaltung gab der LVPEBW aber auch in einem Redebeitrag ein klares Statement der Betroffenen ab: So nicht – bitte anders.

Unser Fazit: 

Diese „ambulante Behandlungweisung“ ist 1. rechtswidrig und 2. ist keine Evidenz einer Wirksamkeit vorhanden, die so etwas rechtfertigen würde. Daraus folgt ganz klar:

solch eine Reglung ist rechtlich und ethisch nicht vertretbar.

Es muss daher verhindert werden, dass das PsychKHG (oder andere Rechtsgrundlagen) in dieser Form verändert werden. Bisherige Vorstöße diesbezüglich im PsychKHG von Bremen und im Betreuungsrecht wurden verhindert durch Widerstand und höhere Rechtssprechung.

Hier finden Sie den kompletten Redebeitrag unserere Aktiven Carina Kebbel zur Verfügung:

Sie können diesen auch hier als pdf herunterladen.

Ethik-Tagung_2023_Vortrag_Kebbel_LVPEBW

Bitte leiten sie diesen an alle weiter, die es betreffen oder interessieren könnte. Vielen Dank.

Weitere Infos zur ambulanten Zwangsweisung finden Sie hier.

Ethik-Tagung 2023 in Zwiefalten 

Redebeitrag aus Sichtweise von Psychiatrie-Erfahrenen zur „Ambulanten Behandlungsweisung“ 

1. Einleitung 

Nachdem ich vom LVPEBW gebeten wurde, den heutigen Beitrag aus  Sichtweise der Psychiatrie-Erfahrenen zu übernehmen, fing ich an, mich  intensiv mit dem heutigen Thema auseinanderzusetzen. Ich begann mit  dem Aspekt „Sichtweise der Psychiatrie-Erfahrenen“. Und erinnerte mich  an einen Text, den ich hierzu anlässlich einer Veranstaltung vor einiger  Zeit geschrieben hatte. 

2. Die Betroffenen-Perspektive 

Gibt es eigentlich die Betroffenen-Perspektive? 

Die Notwendigkeit des trialogischen Austauschs (Betroffene, Angehörige  und Profis) gilt inzwischen als Selbstverständlichkeit. Es wurde verstanden, dass man alle drei Perspektiven berücksichtigen muss, um Sachverhalte beurteilen und Themen angehen zu können. 

Dabei wird jedoch meines Erachtens ein Umstand sträflich vernachlässigt.  Nämlich jener, dass es bei all diesen drei Perspektiven nicht die Perspektive dieser Gruppe gibt, sondern es innerhalb der jeweiligen  Gruppe auch nochmal sehr große Varianzen gibt. Diese hängen zum  Beispiel – wenn ich mich nun auf die Betroffenen-Perspektive fokussiere  – von Fragen ab wie: 

Was ist meine Grundproblematik? 

Was für eine Persönlichkeit habe ich?

Welche Vorerfahrungen habe ich bisher im Leben gemacht? Was passiert um mich herum – gegenwärtig oder auch schon seit längerer  Zeit? 

All diese Einflussfaktoren (und sicherlich noch viel mehr) wirken bei jeder  Entscheidung oder bei jedem Sachverhalt, über den ich nachdenke, mit  hinein. Ich glaube daher, dass es sich um eine hohe Komplexität handelt,  die unsere Einschätzung von Themen und Sachverhalten beeinflusst. 

Mir ist dies bei der gedanklichen Vorbereitung auf die Veranstaltung  „Gratwanderung 4.0 – Zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung“ wieder  sehr bewusst geworden. Bei dieser Veranstaltung war ich an einem  Workshop beteiligt zur Betroffenen-Perspektive. Und als ich dann darüber  nachdachte, was meines Erachtens wichtig sei anzusprechen, erkannte  ich mal wieder: die Betroffenen-Perspektive gibt es meines Erachtens  nicht. Ich gehe eher davon aus, dass es ganz viele Betroffenen Perspektiven gibt.  

Um beim konkreten Thema „Zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung“  zu bleiben: je nachdem, was Menschen bisher erlebt haben, ob sie  überhaupt selbst schon Erfahrungen mit diesem Spannungsfeld gemacht  haben oder nur aus Erzählungen darauf Bezug nehmen können, werden  die Einschätzungen darüber, was Menschen sich gewünscht hätten oder  wünschen würden sehr weit auseinanderliegen. 

3. Spannungsfeld Fürsorge vs. Selbstbestimmung 

Dieser Text (in seiner ursprünglichen Form) entstand während der  Vorbereitung auf eine Veranstaltung, die sich mit dem  Spannungsverhältnis „Zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung“ befasst hat. Ein Thema, welches meines Erachtens auch heute im Raum  steht. Die Fragen, die Ihren Überlegungen zur „ambulanten  Behandlungsweisung“ zu Grunde liegen sind doch: dürfen Menschen  selbstbestimmt handeln – um jeden Preis? Oder muss man sie auch  „fürsorglich belagern“ dürfen? 

Das sind keine Fragestellungen, auf die es einfache Antworten geben  kann. Und es sind keine Fragestellungen, auf die es Antworten geben  kann, die für alle Menschen passen. Es erschien mir daher sehr wichtig,  mich vorher mit verschiedenen anderen Menschen zum heutigen Thema  auszutauschen, um mich gut auf diesen Vortrag vorzubereiten. Mir war es  wichtig, nicht nur meine Sichtweise, sondern mehrere Sichtweisen von  verschiedenen Psychiatrie-Erfahrenen einzusammeln, um eine Grundlage  für meinen Redebeitrag zu haben. Und dennoch bin ich mir bewusst – und  möchte auch Sie liebe Zuhörer*innen dafür sensibilisieren – dass dies  nicht „die Sichtweise der Psychiatrie-Erfahrenen“, sondern eine mögliche  Sichtweise aus Perspektive von Psychiatrie-Erfahrenen ist, die ich hier  und heute einnehmen werde. 

4. Flyer zur heutigen Veranstaltung 

4.1 Worum geht es hier eigentlich? 

Beim Lesen des Flyers zur heutigen Veranstaltung, konnte ich zunächst  nicht wirklich erfassen, was mit einer „ambulanten Behandlungsweisung“  gemeint ist. Ich begriff dann aber relativ schnell, dass es um eine  ambulante Zwangsbehandlung geht. Und ich erfasste, dass wohl der  Gedanke einer Änderung im PsychKHG das angestrebte Ziel ist. Im  Hinblick auf Menschenrechte, UN-BRK, Grundrechte,  Antidiskriminierungsgesetz etc. halte ich es für rechtlich völlig ausgeschlossen, dass eine ambulante Zwangsbehandlung zulässig ist.  Und das ist auch seit 2017 im BGB so verankert. Das Problem, welches  ich nur sehe: wird eine solche rechtliche Regelung verfügt, dann hat diese  erst einmal rechtliche Gültigkeit – bis sie jemand „weg klagt“. Und das wird  für den betroffenen Personenkreis vermutlich sehr schwer sein, weil diese  Menschen in der Regel nicht über die finanziellen Mittel, die Belastbarkeit  und Ausdauer verfügen, um einen derartig belastenden und komplizierten  Rechtsstreit auf sich nehmen zu können.  

4.2 Problematik des gewählten Bildes 

Mich erschreckte zudem das für den Flyer gewählte Bild sowie der Titel  der Tagung: „Ambulante Behandlungsweisung: Die Weichen in die richtige  Richtung stellen.“ Finden Sie das Bild von gestellten Weichen wirklich  stimmig? Bahngleise sind starre Begrenzungen, die nur einen Weg  zulassen. Wie können Sie ein derartiges gedankliches Bild mit  Personenzentrierung – wie sie das BTHG fordert und zur rechtlichen  Bedingung macht – in Einklang bringen? Menschen sind verschieden.  Menschen haben unterschiedliche Bedarfe und Bedürfnisse, auf die  eingegangen werden muss. Zum Glück ist dies inzwischen rechtlich  verankert. Und dies gilt nicht weniger, sondern noch mehr für die  „Schwächsten der Schwachen“ – wie man Klaus Dörner zuschreibt den  Personenkreis bezeichnet zu haben, um den es hier heute geht. Die  Menschen, die Sie hier heute zum Thema machen, sind doch jene, die  auch als „Systemsprenger*innen“, „Netztester*innen“ oder „hard-to-reach Klient*innen“ bezeichnet werden. Jene Menschen also, die nicht einfach  mit dem Standard-Angebot erreicht werden können, welches die  Psychiatrie gegenwärtig bereithält. Aber ist dies das Problem dieser  Menschen? Oder nicht vielmehr das Problem eines Systems, das sich mit  der Begrenztheit seiner eigenen Wirksamkeit auseinandersetzen muss?

Mir ist bewusst, dass jeder Vergleich hinkt und gedankliche Bilder immer  nur bis zu einem gewissen Punkt geeignet sind, um Sachverhalte zu  veranschaulichen. Und so wollten Sie mit dem Bild der Weichenstellung  sicherlich nicht ausdrücken, dass es nur einen starren Weg zur Genesung  geben kann. Sie formulieren es ja auch – „Die Weichen in die richtige  Richtung stellen.“ Geht es also heute nur darum, in welche Richtung die  Weichen „richtigerweise“ gestellt werden müssen? Nach links oder nach  rechts? Oder geradeaus? Und was ist denn die „final destination“?  Welchen Zielbahnhof steuern wir denn an? Sind wir auf dem Weg zum  gleichen Ziel? Wollen wir alle zu „Selbstbestimmung, gleiche Rechte für  alle Menschen, Bedürfnis-angepasste Unterstützung“? Oder wo soll die  Reise hingehen? 

4.3 Wer hat die Definitionshoheit? 

Aber wer entscheidet denn, was die „richtige“ Richtung ist? Wer soll denn  dafür die Definitionshoheit bekommen? Und dann wundere ich mich  schon, dass hier so viele Ärzte sprechen – andere relevante  Berufsgruppen jedoch fehlen. Wissen wirklich Ärzte allein, was die  „richtige“ Richtung ist? Was ist denn mit all jenen Berufsgruppen, die im  ambulanten Sektor für Menschen mit psychischen Krisen und Störungen tätig sind? 

4.4 Wen hätte man eigentlich mit ins Gespräch nehmen müssen?

Warum sind bei dieser Tagung heute keine Mitarbeiter*innen von  Gemeindepsychiatrischen Zentren oder Sozialpsychiatrischen Diensten,  kein Mitarbeiter*innen der Eingliederungshilfe, keine Sozialplaner*innen,  etc. als Redner*innen dabei? Und wieso wird über ein solches Thema  diskutiert und nur exemplarisch eine Person für die Sichtweise der  Psychiatrie-Erfahrenen eingeladen? Wen wird denn die angedachte „ambulante Behandlungsweisung“ betreffen? Wie viele Ärzte werden  denn davon in der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit betroffen sein und  wie viele Menschen mit psychischen Krisen und Störungen werden davon  betroffen sein? Dann wäre es doch nur logisch, dass zumindest auch  mehrere Menschen aus den Reihen der Psychiatrie-Erfahrenen hierzu  einen Beitrag müssten einbringen dürfen. Es geht doch darum, dass – insbesondere bei schwierigen Themen – nicht nur über Menschen,  sondern mit Menschen gesprochen wird. Und im Idealfall natürlich mit  jenen Menschen, um die es eigentlich geht. Es wäre daher meines  Erachtens notwendig, zu einem solchen Thema auch Menschen  anzuhören, die immer wieder in solch massive Krisen geraten oder  geraten sind. Haben sie es denn versucht, Menschen anzufragen, die  diesen „Drehtür-Mechanismus“ erlebt haben? Menschen, die nach der  Klinik immer wieder in eine erneute Krise gerutscht sind? Menschen, bei  denen die medikamentöse Behandlung nicht (dauerhaft) das Ergebnis  gebracht hat, das sie sich aus ihrer Behandler*innen-Perspektive  vorgestellt hatten? Es gibt Menschen, die das erlebt haben und nun wieder  in einer besseren Verfassung sind. Diese Menschen könnte, sollte – ja  müsste! – man doch mal fragen, was ihnen denn geholfen hat, um sich  wieder stabilisieren zu können. Daraus ließen sich doch Interventionen  ableiten und erarbeiten, die wirklich das Potential haben könnten, um  „Drehtür-Psychiatrie“ und Leid zu verhindern. Das sind doch die  Expert*innen zu diesem Aspekt. 

4.5 Notlösung: Empathie / empathische Auseinandersetzung mit der  Thematik 

So bleibt uns heute leider nur die Möglichkeit, uns vorzustellen wie die  Menschen mit schlimmen rezidivierenden Krisen wohl ihre Ausführungen  hören und erleben würden. Versuchen wir es daher vielleicht mal mit Empathie. Stellen wir uns – weil wir nun hier und heute leider keine  bessere Möglichkeit haben – vor, es ginge um uns. Stellen wir uns vor, die  geplante „ambulante Behandlungsweisung“ sei etwas, was als Möglichkeit  diskutiert wird, um uns persönlich vor weiteren krisenhaften Zuspitzungen  unseres Erlebens zu schützen. Was würden wir dann denken, wenn wir  Aussagen lesen wie: 

„Ambulante Behandlungsweisung“ – was ist damit gemeint und wozu soll  diese dienen? Der Zweck ist schnell erklärt: Es geht darum, Leid zu  vermindern und Situationen, die gegebenenfalls mit Zwang oder Gewalt  einhergehen, zu vermeiden“ 

Ich würde mich fragen, wer denn auf Basis welcher Definition von Leid  meint, dieses vorhersehen zu können. Mich würde interessieren, welche  Menschen befugt werden würden, darüber zu entscheiden, ob ich Gefahr  laufe, in eine Situation des Leides zu geraten, vor der ich geschützt  werden müsste. Ich hätte großes Interesse daran, für wie lange denn solch  eine präventive Schutzmaßnahme ausgesprochen werden könnte. Und es  würde mich interessieren, wer denn die Menschen wären, die die  „ambulante Behandlungsweisung“ dann umsetzen würden. All’ diese  Fragen würden mich sehr beschäftigen, wenn ich eine der Personen wäre,  die vielleicht von dieser Regelung betroffen sein könnte.  

Was würde mir durch den Kopf gehen, wenn ich als potenziell von dieser  Maßnahme betroffene Person Aussagen lesen würde wie: 

„Es geht darum, einen Ausweg zu finden aus einer Spirale von Selbst- und  Fremdgefährdung, stationärer Zwangseinweisung, erfolgreicher Behandlung, Beendigung der Behandlungsmaßnahmen nach Entlassung,  erneuter Zuspitzung der Situation, erneuter stationärer Notaufnahme …“  

Mich würde – wenn es um mich ginge – beschäftigen, warum die  Behandler*innen, denn keinen anderen Ausweg finden können, um mir  Unterstützung zu bieten. Ich würde mich fragen, warum sich niemand mit  der Fragestellung beschäftigt, was denn meine Gründe sind, die  Medikation nach Entlassung wieder einzustellen. Wäre diese Behandlung  wirklich erfolgreich und für mich sinnvoll, dann hätte ich doch keinen  Grund diese wieder zu beenden. Ich würde mich fragen, warum mir denn  keine wirklichen Alternativen der Unterstützung angeboten werden  können, die ich für mich als sinnvoll und hilfreich erleben würde. Es gibt  doch Konzepte wie FACT-Teams (Flexible Assertive Community  Treatment-Teams), die durchaus das Potenzial hätten, auch Menschen  wie mir – wenn ich immer wieder in schwere Krisen rutschen würde – eine  Unterstützung zu bieten, die mich erreichen würde. Ich würde wissen  wollen, warum mir immer wieder nur Medikamente und Klinik „angeboten“  (bzw. eigentlich alternativlos aufgedrängt) werden würden. Ich würde  wissen wollen, warum mir nicht ein Entlass-Management, welches diesen  Namen auch verdient und eine nahtlos an den Klinikaufenthalt  anschließende meinen Bedürfnissen entsprechende Unterstützung im  ambulanten Setting zur Verfügung gestellt werden könnten. 

Wenn es um mich ginge – was würden Sätze in mir auslösen wie: 

„Es geht insbesondere um die Vermeidung und Beendigung von  schädlichen Drehtür-Mechanismen bei glücklicherweise nur wenigen der  Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Ein Ausweg könnte eine richterlich verfügte, ambulante Behandlungsweisung, also die  verpflichtende Duldung einer notwendigen Behandlung sein.“ 

Wenn es um mich gehen würde bei dieser geplanten Gesetzesänderung,  dann würde ich von Ihnen wissen wollen, wieso sie die geltende  Gesetzeslage ignorieren und aushöhlen möchten. Es wurde bereits 2017  im BGB geregelt, dass eine Zwangsbehandlung als „letztes Mittel“  ausschließlich im stationären Setting möglich ist. Und selbst diese  Regelung steht in einem Widerspruch zu Menschenrechten und zur UN BRK. 

Und ich würde Sie fragen, wieso sie die wissenschaftliche Datenlage zu  vergleichbaren Regelungen wie der von Ihnen angedachten „ambulanten  Behandlungsweisung“ nicht bei ihren Überlegungen berücksichtigen. Es  ist doch bereits in einer Ausgabe von „the lancet“ vom 11. Mai 2013 zu  lesen gewesen, dass auch die dritte und umfassendste randomisierte  Studie zu CTOs ähnlich wie die Vorgänger-Studien zu dem Ergebnis kam,  dass kein Nachweis gefunden werden konnte, dass CTOs das  beabsichtige Ziel der Reduzierung von Wiederaufnahmen von  sogenannten „Drehtür-Patient*innen mit der Diagnose Psychose  erreichen konnten. CTOs das sind „community treatment orders“, die es  in anderen Ländern bereits seit Längerem gibt und die wohl vergleichbar  sind mit dem, was mit der „ambulanten Behandlungsweisung“ gemeint ist.  Bereits in diesem Artikel von vor über 10 Jahren wird dokumentiert, dass  keine Vorteile für die Patient*innen, jedoch eine wesentliche Begrenzung  deren individueller Freiheit das Ergebnis sind. Solch massive  Einschränkungen der persönlichen Freiheit können nur gerechtfertigt  werden, wenn nach einer strengen Kosten-Nutzen-Abwägung die Vorteile  für die Patient*innen deutlich die mit dieser Maßnahme verbundenen Einschränkungen überwiegen. Hierfür fehlt nach meinem Kenntnisstand  bisher jedweder Nachweis. Und ohne diesen Nachweis sind diese  Einschränkungen ethisch nicht vertretbar.  

5.Meine (Doppel-)Perspektive 

Als Betroffene von einer psychischen Störung und auch als  Sozialarbeiterin bin ich zutiefst überzeugt vom bio-psycho-sozialen  Konzept von Gesundheit und Krankheit. Ich glaube daran, dass ein  Mensch mehr ist als sein Hirnstoffwechsel und ich kann das mit meiner  eigenen Störung auch im Selbstversuch erfahren. Medikamente sind ein  Baustein, der zur Linderung von schwierigen psychischen Symptomen  beitragen kann. Aber Medikamente sind nicht die Lösung für psychische  Krisen und Störungen. Und das gilt für Menschen mit leichteren  Symptomen ebenso wie für jene Menschen, auf die Sie sich hier heute  beziehen. Auch diese Menschen sind soziale Wesen, die mehr an  Unterstützung benötigen als eine Depot-Spritze. Natürlich macht das  Mühe. Selbstverständlich benötigt es Zeit, Ressourcen, ausreichend und  entsprechend geschultes Personal, um einen Zugang zu diesen  „Expert*innen für Eigensinn“ zu finden. Das ist jedoch die „richtige“  Richtung, in die es gehen muss. Das verlangt uns die Menschlichkeit ab – und inzwischen zum Glück auch die Rechts-Sprechung. 

6. Begrenztheit auch ihrer jeweiligen Perspektive 

Abschließend erscheint es mir wichtig, auch Sie für die Begrenztheit ihrer  jeweiligen eigenen Perspektive zu sensibilisieren. Denn bei Ihren  Überlegungen über die Menschen, um die es hier und heute geht,  übersehen Sie einen ganz wichtigen Umstand: diese Menschen sind nicht  fortlaufend so akut in der Krise, wie Sie diese (auch wiederholt) erleben.  Diese Menschen waren nicht immer in einem so schwierigen Zustand – und müssen dies auch nicht für immer bleiben. Ich habe konkrete 

Personen im Kopf, die von dieser von Ihnen geplanten neuen Regelung  betroffen sein könnten. Ich erlebe diese Menschen – in ihren guten und in  ihren schwierigen Phasen. Und deswegen tut es mir wirklich weh, wenn  ich mir Ihre Überlegungen zur „ambulanten Behandlungsweisung“ in der  praktischen Umsetzung vorstelle und mir die Begleitwirkungen einer  solchen Regelung antizipiere. Wer stellt denn dann sicher, dass sich mit  diesen besonderen Menschen, die einfach nicht so recht in den von der  Gesellschaft definierten Rahmen passen wollen, noch tatsächlich befasst  und ihnen wirkliche und angemessene Unterstützung zur Verfügung  gestellt wird? Wenn es doch dann ein bequemes und rechtlich  abgesichertes Mittel gibt, um diese Menschen kostengünstig „zu  versorgen“. Was ist denn dann mit der notwendigen Umsetzung des  BTHG, dem damit verbundenen Paradigmenwechsel in der Unterstützung  von Menschen, etc.? Mir fehlt der Optimismus dafür, zu glauben, dass sich  solche Mühen dann mit den „Expert*innen für Eigensinn“ noch gemacht  werden. Aber diese Menschen haben die gleichen Rechte wie alle  anderen Menschen auch – auch wenn sie es dem System und anderen  Menschen damit manchmal nicht leicht machen. Das müssen sie ja aber  auch nicht.  

Und ebenso wie meine heutige Ausführung nicht „die Sichtweise der  Psychiatrie-Erfahrenen“ ist, so sind auch die von Ihnen vertretenen  Sichtweisen nicht „die Sichtweise der Behandler*innen“. Auch in Ihren  Reihen wird es verschiedene Sichtweisen auf diesen Sachverhalt und  differierende Lösungsansätze geben. 

7. Zitat 

Ich möchte meinen Redebeitrag beenden mit einem Zitat aus dem Buch  „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“ von John Green. 

„Zweifle du am Sternenfeuer / 

zweifle an der Sonne Gang.“ 

William Shakespeare 

Natürlich geht die Sonne nicht – das heißt, sie geht schon, aber  nicht um uns herum. Selbst Shakespeare ging von  grundlegenden Wahrheiten aus, deren Grundlage sich als falsch  herausstellte. Wer weiß, an welche Lügen ich glaube oder du.  Und wer weiß, woran wir nicht zweifeln sollten. 

 

8. Dankeschön

 

9. Quellenangaben 

Persönlicher Austausch mit verschiedenen Menschen mit (und ohne)  Psychiatrie-Erfahrung zu diesem Thema 

Flyer abgerufen unter  

https://www.pprt.de/fileadmin/user_upload/Ethiktagung_2023.pdf und  Eckpunktepapier zur heutigen Veranstaltung 

Aderhold, V., Bock, T. & Greve, N. (2004). Fachliche Stellungnahme zu  den geplanten Gesetzlichen Ergänzungen durch den § 1906a BGB und  §70o FGG (Zwangsweise Zuführung zur ärztlichen Heilbehandlung und  Generalbevollmächtigung für Angehörige) 

Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit  Behinderungen (Hrsg.) (2018). Die UN-Behindertenrechtskonvention.  Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.  Abgerufen unter https://www.institut-fuer 

menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/DB_Menschenrechtsschut z/CRPD/CRPD_Konvention_und_Fakultativprotokoll.pdf 

Becker, J. & Schlutz, D. (2019). Experten für Eigensinn. Berichte  gelungener Zusammenarbeit bei herausforderndem Verhalten, erzählt  von Klienten, Angehörigen und Fachkräften. Köln: Psychiatrie Verlag. 

BPE (2023). Positionspapier des Bundesverbandes Psychiatrie Erfahrener e. V. zur „ambulanten Behandlungsweisung“ abgerufen unter  https://bpe-online.de/wp 

content/uploads/2023/09/Warum_wir_NEIN_sagen_9-2023.pdf 

BPE (2023). Statement aus Betroffenenperspektive Psychiatrie Erfahrener anlässlich der 33. Ethiktagung zur Diskussion über die  Einführung einer „Ambulanten Behandlungsweisung: Die Weichen in die  richtige Richtung stellen“. (per Mail zugestellt bekommen) 

Brinkmann, W. (1993). Kindesmißhandlung und Kinderschutz:  Problemangemessene Hilfen zwischen karitativer Mildtätigkeit und  fürsorglicher Belagerung. In Gaeßner, G., Mauntel, C., Püttbach, E. 

(Hrsg.), Gefährdung von Kindern. Problemfelder und präventive Ansätze  im Kinderschutz (S. 94-122). Opladen: Leske + Budrich. 

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) (o. J.). § 1832 Ärztliche  Zwangsmaßnahmen. Abgerufen unter 

https://www.gesetze-im 

internet.de/bgb/__1832.html#:~:text=§%201832%20Ärztliche%20Zwang smaßnahmen&text=1.,2

Burns, T., Rugkasa, J., Molodynski, A., Dawson, J., Yeeles, K., Vazquez Montes, M., Voysey, M., Sinclair, J. & Priebe, S. (2013). Community  treatment orders for patients with psychosis (OCTET): a randomized  controlled trial. Lancet, 381, 1627-33. Abgerufen unter  

https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140- 6736(13)60107-5/fulltext 

Burns, T., Yeeles, K., Koshiaris, C., Vasquez-Montes, M., Molodynski, A.,  Puntis, S., Vergunst, F. Forrest, A., Mitchell, A., Burns, K. & Rugkasa, J.  (2015). Effect of increased compulsion on readmission to hospital or  disengagement from community services for patients with psychosis:  follow-up of a cohort from the OCTET trial. Lancet, 2, 881-90. https://www.thelancet.com/journals/lanpsy/article/PIIS2215- 0366(15)00231-X/fulltext 

Burns, T., Rugkasa, J., Yeeles, K. et al. (2016). Coercion in mental  health: a trial of the effectiveness of community treatment orders and in  investigation of informal coercion in community mental health care.  Southampton (UK): NIHR Journals Library, 2016 Dec. (Programme  Grants for Applied Research, No. 4.21.) Abgerufen unter  https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK401972/ 

Debus, S. (2022). Der „aggressive Risikopatient“ – als Konstrukt. Soziale  Psychiatrie, 2, 8-12. Abgerufen unter https://www.dgsp 

ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/dgsp/SP/SP_176/SP_176_Debus_Der_a ggressive_Risikopatient.pdf 

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (o. J.)  Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz abgerufen unter 

https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/beteiligen/fd-personenzentrierung in-der-eingliederungshilfe/ 

Green, J. (2022). Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken (5. Aufl.). München:  dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. 

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (1949). Abgerufen  unter https://www.gesetze-im-internet.de/gg/GG.pdf 

Höllmüller, H. (2022). Hard-to-reach abgerufen unter  

https://www.socialnet.de/lexikon/Hard-to-reach 

LapK (2015). Therapie und Schutz bei geschlossenen Türen. Unbeirrbar,  49, 8-9. Abgerufen unter https://www.lapk-bayern.de/wp content/uploads/2020/08/unbeirrbar-maerz-2015.pdf 

Lippert, J. (2023). Die nicht enden wollende Geschichte… abgerufen  unter https://kobinet-nachrichten.org/2023/09/01/die-nicht-enden wollende-geschichte/ 

Manning, S. (2013). ´Psychiatric Asbos`were an error says key advisor abgerufen unter https://www.independent.co.uk/life-style/health-and families/health-news/psychiatric-asbos-were-an-error-says-key-advisor 8572138.html 

Moncrieff, J. (o. J.). How can Community Treatment Orders still be  justified? abgerufen unter https://joannamoncrieff.com/2013/12/03/how can-community-treatment-orders-still-be-justified/ 

Psychiatrie-kritische Initiative Tübingen (PKIT) und Psychismus-Stoppen  (2023). Online-Vortrag „ambulante psychiatrische Zwangsbehandlung“  am 03.10.2023 via Zoom 

Saschenbrecker, T. (2005). Stellungnahme abgerufen unter  https://www.die-bpe.de/saschi_stellungnahme.htm

Traub, H.-J. & Ross, T. (2023). Ein Revival der “Forensifizierung”? Die  aktuelle Entwicklung des Maßregelvollzugs nach § 63 StGB. Recht &  Psychiatrie, 41, 150-159 

Veldhuizen van, J. R. & Bähler, M. (2013), Erstellung der deutschen  Version durch Niehaus, V., Wüstner, A. & Lambert, M. Flexible Assertive  Community Treatment (FACT)-Manual. Abgerufen unter  https://www.dvgp.org/fileadmin/user_files/dachverband/dateien/Materialie n/FACT_Manual_und_QM-Skala_deutsch.pdf 

Vereinte Nationen (1948). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.  Abgerufen unter  

https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf 

Vollmann, J. (Hrsg.) (2017). Ethik in der Psychiatrie. Ein Praxisbuch. Köln: Psychiatrie Verlag. 

Weinmann, S. (2019). Die Vermessung der Psychiatrie. Täuschung und  Selbsttäuschung eines Fachgebiets. Köln: Psychiatrie Verlag.

CARINA KEBBEL, LVPEBW, 2023