Persönliche Einschätzung zur Lage der psychiatrischen Unterstützungsangebote in der Pandemie

Lesen Sie hier einen Bericht unseres Vorstandsmitglieds Carina Kebbel über die Lage der psychiatrischen Unterstützungsangebote  in der Pandemie – wir freuen uns über Weitergabe.

Warum sich psychische Erkrankungen – meiner Meinung nach – nicht ins „Home-Office“ verlagern lassen

Einleitend möchte ich darauf hinweisen, dass die in diesem  Text gemachten Angaben nicht als repräsentativ gewertet werden dürfen, sondern lediglich  einen subjektiven Eindruck wiedergeben. Darüber hinaus wird mein Blick auf dieses Thema  von verschiedenen Faktoren beeinflusst: ich habe eine Zwangsstörung, die dazu führt, dass  die Corona-Situation für mich einen massiven Trigger-Effekt hat und ich bin darüber hinaus  auch als Mitarbeiterin in der ambulanten Psychiatrie tätig. Diese Aspekte beeinflussen meinen  Blick auf die Welt und auf das Thema. Meine Schilderung muss daher mit dieser  Einschränkung der Objektivität betrachtet werden. 

Die Pandemie-Situation hat das gesamte öffentliche und private Leben massiv auf den Kopf  gestellt und viele Einschränkungen und Veränderungen notwendig gemacht. Dies hatte  unweigerlich auch Auswirkungen auf die Angebote der psychiatrischen  Versorgungslandschaft. An vielen Stellen wurden neue und kreative Wege gefunden, um die  Nutzer*innen der Angebote weiterhin unterstützen zu können. So wurden zum Beispiel  Kontakte telefonisch aufrechterhalten, Online-Beratungsangebote eingeführt, Hausbesuche  als Spaziergänge im Freien umgesetzt, etc. Dies ist zunächst einmal anzuerkennen und zu  würdigen. Es gab und gibt jedoch Schwierigkeiten, die auch bei aller Kreativität nicht gelöst werden konnten und dazu führen, dass Mängel in der Unterstützung der Nutzer*innen eingetreten sind. Auf diese möchte ich nachfolgend näher eingehen.

Menschen – auch und insbesondere Menschen mit seelischen Erkrankungen – brauchen den direkten Kontakt und Austausch mit anderen Menschen. Dieser kann nicht ersetzt werden durch Telefonate und digitale Kontakte. Diese Kommunikationswege können unterstützend genutzt werden, eine gewisse Zeit überbrücken, aber niemals die direkte Interaktion zwischen Menschen ersetzen. Soziales Miteinander setzt voraus, dass ich mein Gegenüber wahrnehmen kann, Körpersprache, Mimik und „Schwingungen“ aufnehmen kann. Viele Menschen mit seelischen Erkrankungen – häufig jene, die im Zusammenhang mit der Erkrankung nachhaltig und schwer in der Lebensführung beeinträchtig sind – haben ohnehin sehr wenig soziale Kontakte. Eine weitere Reduktion dieser Kontakte führt dann leicht in eine nahezu vollständige Isolation. Ein Effekt, der insbesondere im Zusammenhang mit der vorübergehenden Schließung von Einrichtungen wie z. B. Tagesstätten für psychisch erkrankte Menschen aufgetreten ist. Man hat die Menschen an dieser Stelle vorübergehend allein und im Stich gelassen. Auch wenn die Mitarbeiter*innen sicherlich viel unternommen haben, um das Leid mit Anrufen etc. zu lindern, ist an dieser Stelle ein Schaden für die Nutzer*innen entstanden. Menschen waren zum Teil vollkommen isoliert, mit ihren Ängsten und Sorgen allein gelassen und mussten erleben, dass nicht einmal das soziale Unterstützungssystem Verlässlichkeit bieten kann. Ohnehin instabile Menschen wurden weiter verunsichert, bekamen eine ihrer letzten wichtigen Stützen genommen.

Die im Bereich der ambulanten Psychiatrie so essenzielle Niedrigschwelligkeit wurde aufgehoben bzw. eingeschränkt. Menschen mussten und müssen überall ihren Namen und ihre Kontaktdaten hinterlassen. Auch vorher anonym nutzbare Beratungsstellen müssen jetzt auf Grund der Corona-Situation dokumentieren, wer ihre Angebote wann genutzt hat. Dies stellt mitunter eine Hemmschwelle und Barriere für die Inanspruchnahme dar. Es kann und muss befürchtet werden, dass es Menschen gibt, die daher nun auf die Nutzung verzichten und ohne Unterstützung bleiben. Listen der Teilnehmer*innen von z. B. Tagesstätten für Menschen mit psychischen Erkrankungen haben zumindest in der Anfangszeit erkennbar Ängste bei den Menschen ausgelöst, manche Menschen wollten sich damit nicht einverstanden erklären und haben sich aus den Angeboten zurückgezogen. Viele Verunsicherungen sind entstanden durch die ständig wechselnden Regelungen. Diese haben vermutlich bei vielen Menschen mit seelischen Erkrankungen einen noch massiveren Effekt gehabt als bei seelisch stabileren Menschen.

Durch mediale Berichterstattung wurden bestehende Ängste bei entsprechend vulnerablen Menschen geschürt, mitunter neue Ängste aufgeworfen. Die allgemeine Verunsicherung und Hilflosigkeit mit der Situation hat sicherlich auf viel Menschen mit seelischen Vorerkrankungen noch viel heftiger eingewirkt als auf die übrige Bevölkerung. Für Menschen, die z. B. im Rahmen einer Zwangserkrankung zuvor schon Ängste vor Krankheitserregern hatten, ist von einer massiven Trigger-Situation auszugehen. Auch bereits bestehende Rückzugstendenzen wie diese z. B. im Zusammenhang mit Depressionen aber auch Psychosen häufig vorkommen, sind durch die Kontaktbeschränkungen forciert worden. Wie viele Menschen vielleicht immer noch verängstigt und weitestgehend isoliert in ihren Wohnungen sitzen, kann nur spekuliert werden. Jeder einzelne Mensch, der so in eine Notlage geschubst oder in dieser belassen wurde, ist ein nicht akzeptabler „Kollateralschaden“ der Pandemie-Situation. Es ist wichtig, auch diese Menschen zu erreichen und ihnen zu helfen, wieder Mut und Zuversicht zu erlangen, um sich aus ihrem „Schneckenhaus“ wieder heraustrauen zu können.

Kommunikation über digitale Medien ist für viele Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht deshalb schwer oder unmöglich, weil sie diese nicht bedienen oder sich diese nicht leisten können. Natürlich spielen diese Faktoren auch in manchen Fällen eine Rolle. Dann sind dies jedoch tatsächlich leicht lösbare Probleme. Viel relevanter im Kontext von seelischen Erkrankungen sind jedoch Ängste und Unsicherheiten im Zusammenhang mit diesen Kommunikationswegen. Beim Verweis auf Digitalisierung als Möglichkeit der Kontaktaufnahme oder -Aufrechterhaltung werden meines Erachtens die Natur vieler seelischer Erkrankungen und die daraus für die betroffenen Menschen resultierenden Einschränkungen, Hemmnisse und Barrieren völlig ignoriert. Es ist geradezu unverschämt, einen Menschen, der sich auf Grund eines psychotischen Erlebens vielleicht ohnehin überwacht fühlt, auf solche Kommunikationswege zu verweisen und anzunehmen, dass dies für diesen Menschen problemlos möglich wäre, wenn er nur über die nötige Infrastruktur verfügt. Es gibt Menschen mit seelischen Erkrankungen, die nicht einmal ein Telefon haben und auch keines haben möchten. Diese Menschen kann man nur im direkten und zum Teil aufsuchenden Kontakt erreichen.

Durch die Einschränkungen im Zusammenhang mit der Pandemie sind auch viele Menschen in eine seelische Schieflage geraten, die vorher keine oder kaum derartige Probleme hatten. Einige dieser Menschen werden nicht in der Lage gewesen sein oder sein, diese ohne Unterstützung zu bewältigen. Es kann somit angenommen werden, dass ein zusätzlicher Bedarf an Unterstützungsangeboten, psychologischer und vielleicht sogar psychiatrischer Versorgung entstand ist. Bei diesen neuerkrankten Menschen ist vermutlich in den meisten Fällen davon auszugehen, dass es sich nicht um wirklich schwere psychiatrische Erkrankungen wie Psychosen, Schizophrenie, Borderline-Störungen etc. handelt, sondern vermutlich eher um Depressionen und Angsterkrankungen. Wenn diese Menschen nun mit den bisher bereits erkrankten Menschen – insbesondere jenen, mit den schwerwiegenderen Krankheitsbildern – um Plätze in der Versorgungslandschaft konkurrieren, steht zu befürchten, dass die neuerkrankten Menschen vorgezogen werden könnten. Zum einen, weil die Erkrankungen generell als leichter handhabbar betrachtet werden könnten, zum anderen, weil bei einem neuerkrankten Menschen von einer besseren Chance auf vollständige Remission der Symptomatik ausgegangen werden kann. Schlussendlich könnten so schwer erkrankte Menschen, die es bereits bisher schwer hatten, eine angemessene psychologische und ärztliche Unterstützung zu erhalten, durch diesen Umstand weiter „abgehängt“ werden.

Bleibt die Frage, ob langfristige Lösungen erarbeitet wurden, die in einer derartigen Pandemie Lage tragen können. Ich persönlich würde sagen, dass viele neue Ideen entstanden sind. Manche von diesen Ideen können vielleicht tatsächlich für den einen oder anderen Menschen eine sinnvolle Unterstützung in einem derartigen Ausnahmezustand sein. Einen Ersatz für bestehende reguläre Angebote können diese jedoch nicht darstellen. Die neuen Ansätze können lediglich eine Ergänzung des bisherigen Spektrums sein und absolute Notzeiten überbrücken helfen – mehr jedoch nicht.

Carina Kebbel

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Psychiatrie_in_Pandemie_Briefkopf_14.12.2021