Offener Brief: Behandlungen von und Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen im Bereich der somatischen Medizin

Der Zugang zu einer optimierten Versorgung somatischer Beschwerden ist für Menschen mit psychischen Erkrankungen mitunter deutlich erschwert. Dazu hat der LVPEBW einen offenen Brief an die  Kassenärztliche Vereinigung und an die Krankenhausgesellschaft in Baden-Württemberg geschrieben.

Zum einen werden körperliche Beschwerden bei bekannter seelischer Vorerkrankung häufig zu leicht als „psychosomatisch“ eingeschätzt und in der Folge nicht hinreichend abgeklärt. Zum anderen fehlt vielfach ein angemessener Umgang mit psychischen Auffälligkeiten bei den Behandler*innen im Bereich der somatischen Medizin. Beide Faktoren zusammen tragen dazu bei, dass unnötige Barrieren für Menschen mit psychischen Erkrankungen bestehen, wenn diese zusätzlich körperliche Leiden haben oder entwickeln. Wir sehen einen dringenden Handlungsbedarf, um hier einen gleichberechtigten Zugang im Gesundheitswesen verwirklichen zu können.

Hier finden Sie den Wortlaut des Briefes, den Sie hier auch downloaden können.

Offener Brief Psychosomatik

Offener Brief zu „Behandlungen von und Umgang mit Menschen mit psychischen  Erkrankungen im Bereich der somatischen Medizin“ 

Sehr geehrter Herr Piepenburg,  

sehr geehrter Herr Dr. Metke, 

sehr geehrter Herr Dr. Fechner, 

durch vielfältige persönliche

Durch vielfältige persönliche Erfahrungsberichte wurden wir als Verband auf die Schwierigkeiten aufmerksam, welche für Menschen auf Grund ihrer psychischen Erkrankung  bei notwendigen Behandlungen im Bereich der somatischen Medizin entstehen können.

So werden bei bekannter psychischer Erkrankung körperliche Beschwerden oft vorschnell ohne hinreichende somatische Diagnostik als „psychosomatisch“ eingeordnet und in der Folge nicht adäquat behandelt. Mitunter werden auch sichtbare Folgen psychischer Beeinträchtigungen wie z. B. Narben durch Selbstverletzungen – auch wenn diese bereits Jahrzehnte zurückliegen und im heutigen Leben der Patient*innen keine Relevanz mehr haben – häufig überbewertet und ein Zusammenhang zu aktuellen Beschwerden konstruiert. Diese Einschätzung wird vielfach selbst dann nicht korrigiert, wenn die Patient*innen glaubhaftversichern, dass die seelische Thematik längst überwunden werden konnte. Darüber hinaus werden psychiatrische Diagnosen oft über Jahrzehnte in Arztbriefen weitergeführt, auch
wenn diese in der Zwischenzeit erfolgreich therapiert werden konnten. Diese weiterhin aufgeführten Neben- bzw. Altdiagnosen können für die Patient*innen bei auftretenden körperlichen Beschwerden dann immer wieder dazu führen, dass diese nicht richtig bewertet und eingeschätzt werden. In einigen Fällen kann das Ergebnis für Patient*innen verhängnisvoll werden.

Leider schützt jedoch auch eine seelische Erkrankung nicht davor, auch noch zusätzlich körperlich zu erkranken wie sich aus der Liste der vielen körperlichen Komorbiditäten bei psychischen Erkrankungen ersehen lässt (Schneider et al., 2019). Darüber hinaus gibt es eine Reihe von körperlichen Erkrankungen, welche sich (zunächst) auch über psychische Symptome zeigen, sozusagen also „psychische Störungen imitieren“ (First, 2017). So können zum Beispiel Erkrankungen der Schilddrüse durchaus auch emotionale Veränderungen auslösen, die leicht als psychische Erkrankung eingeschätzt und letztlich fehldiagnostiziert werden können. Im Sinne der schon seit langer Zeit geforderten Gleichstellung von psychischen und körperlichen Erkrankungen (Sozialministerium Baden-Württemberg, 2018, S. 11), halten wir es für dringend erforderlich, dass Menschen mit psychischen Vorerkrankungen bei somatischen Beschwerden genauso wie Menschen mit und ohne körperliche
Vorerkrankungen gemäß den fachlichen Standards untersucht und behandelt werden.

Umgang mit psychisch erkrankten Menschen im Bereich der somatischen Medizin

Ein weiterer wichtiger Aspekt besteht unserer Auffassung nach darin, dass für die psychischen  Besonderheiten der Menschen im Bereich der somatischen Medizin vielfach ein geeigneter Umgang fehlt.

Es ist kennzeichnend für viele psychische Erkrankungen, dass diese – in Abhängigkeit von Art, Schwere und Aktualität der jeweiligen Erkrankung – phasenweise zu Veränderungen von Verhalten und Reaktionen der betroffenen Menschen führen. Diese können vermutlich auch  auf viele Mitarbeiter*innen im Bereich der somatischen Medizin – so lange diesen das notwendige Wissen zum Wesen schwerer psychischer Beeinträchtigungen nicht zur Verfügung steht – zunächst fremd und nicht nachvollziehbar wirken. Dies kann im ungünstigsten Falle zu massiven Irritationen auf beiden Seiten führen. Gerade das Gesundheitswesen krankt auch an dieser Stelle, weil es an Wissen, Zeit und entsprechend geschulten Mitarbeiter*innen fehlt, um Menschen in diesem Rahmen gut begleiten zu
können. Die genannten Aspekte können mitunter dazu führen, dass der Zugang im Bereich der somatischen Medizin eine so hohe Hürde darstellt, dass diese schlussendlich wie eine Barriere wirkt und für psychisch erkrankte Menschen die Nutzung somatischer Behandlungsoptionen erschwert oder sogar unmöglich macht. (Gemeinsamer Bundesausschuss Innovationsausschuss, o. J.). Dies könnte sogar ein relevanter Faktor für die erhöhte Sterblichkeit von Menschen insbesondere mit schweren psychischen Erkrankungen sein (Schneider et al., 2019).

Erfahrungsberichte weisen zudem darauf hin, dass durch die Verunsicherung bzw. Überforderung des medizinischen Personals im Umgang mit psychisch erkrankten Menschen bei diesem Frustration, Misstrauen, Ärger und Verzweiflung entstehen können. Da diese negativen Emotionen keine Basis für eine gute weitere Behandlung darstellen, wechseln die erkrankten Menschen dann teilweise wiederholt die Praxis. Da es sich jedoch um ein grundlegendes Problem handelt, dass in der somatischen Medizin in weiten Teilen zu wenig Wissen zum guten Umgang mit psychisch erkrankten Menschen vorhanden ist, wird hierdurch häufig keine Veränderung, sondern vielmehr eine Wiederholung der negativen Erfahrungen erreicht. Eine negative Spirale ist nahezu „vorprogrammiert“. Immer mehr kann sich dadurch bei Patient*innen das Bild festsetzten, dass sie nicht ernst genommen werden und bei  Behandler*innen der Eindruck entstehen, dass der bzw. die Patient*in „schwierig“ ist. Das Resultat ist eine für beide Seiten nicht zufriedenstellende Zusammenarbeit bei der Behandlung körperlicher Beschwerden sowie eine massive Verschwendung von zeitlichen Ressourcen im Gesundheitssystem durch die notwendigen Arztwechsel und die Vervielfachung von Erstkontakten. Darüber hinaus können sich vielfach körperliche Beschwerden in der Zwischenzeit intensivieren oder sogar chronifizieren und somit letztlich den Leidensdruck für die Patient*innen noch steigern.

Unbeabsichtigt kann durch diese Aspekte somit eine Diskriminierung von psychisch erkrankten Menschen das Ergebnis sein, welcher unseres Erachtens dringend abgeholfen werden muss.

Als erste Ansatzpunkte halten wir entsprechende Aufklärungs- und Informationsarbeit für notwendig, um die Mitarbeiter*innen im somatischen Bereich für das Thema zu sensibilisieren. In diese sollten unbedingt auch „Experten aus Erfahrung“ (Utschakowski et al., 2016) eingebunden sein, um mit Erfahrungsberichten die Problematik greifbar machen zu können. Wir halten es nicht für ausreichend und zielführend, wenn im Bereich der somatischen Medizin lediglich Kenntnisse im Sinne von Lehrbuchwissen zu Symptomen vorhanden sind. Es braucht vielmehr Wissen „[zu]m Umgang mit schwierigen Klienten“ (Sachs, 2012) und eine entsprechend offene und empathische Haltung, welche sich nach unserer Einschätzung am ehesten durch den Abbau von „Berührungsängsten“, Stigmata und
Vorurteilen erzielen lassen könnte. Um diesem Anspruch näher zu kommen, halten wir zum Beispiel Schulungen der Mitarbeiter*innen für notwendig, welche als wesentliches Kernelement die Begegnung und den Austausch mit psychisch erkrankten Menschen beinhalten. Nur so lässt sich unseres Erachtens erreichen, dass nachhaltig Vorurteile abgebaut werden und aus „erster Hand“ vermittelt wird, welche Verhaltensweisen als hilfreich, welche als weniger hilfreich und welche vielleicht sogar als schädlich erlebt werden.

Wir sind davon überzeugt, dass schlechte Erfahrungen von psychisch erkrankten Menschen bei der Behandlung in der somatischen Medizin in den allermeisten Fällen aus Unsicherheit und Unwissenheit resultieren. Gerne würden wir mit Ihnen gemeinsam darauf hinwirken, dass diese zunehmend reduziert werden können. Wir freuen uns daher sehr auf Rückmeldung von Ihrer Seite sowie einen weiteren Austausch zur Planung möglichst konkreter weiterer Schritte. Am schnellsten erreicht mich Ihre Antwort per Mail an: kebbel@lvpebw.de.

Mit freundlichen Grüßen
Carina Kebbel
Mitglied im Vorstand des Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg e. V.
(LVPEBW)
Tel.: 01 76 – 23 91 69 03
kebbel@lvpebw.de
www.lvpebw.org
MITEINANDER STARK

First, M. B. (2017). Medizinische Beurteilung eines Patienten mit psychischen Symptomen.
Zugriff am 21.07.2021 unter
https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwj

K-
NaMjfTxAhVDzKQKHQsoD3EQFjAPegQIJxAD&url=https%3A%2F%2Fwww.msdmanuals.com%2Fde-de%2Fprofi%2Fpsychische-st%25C3%25B6rungen%2Funtersuchung-des-patienten-mit-psychischen-symptomen%2Fmedizinische-beurteilung-eines-patienten-mit-psychischen-symptomen&usg=AOvVaw2RCwuZ6Oao5GYZkXmFhMIG

Gemeinsamer Bundesausschuss Innovationsausschuss (o. J.). SoKo – Die somatische Versorgung von Patientinnen und Patienten mit psychischer Komorbidität. Zugriff am 21.07.2021 unter
https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwj
X5N_VufLxAhUBDmMBHTquB0I4ChAWMAN6BAgeEAM&url=https%3A%2F%2Finnovatio

nsfonds.g-ba.de%2Fprojekte%2Fversorgungsforschung%2Fsoko-die-somatische-versorgung-von-patientinnen-und-patienten-mit-psychischermorbiditaet.348&usg=AOvVaw2VDBYthEC0mFwwwUNhQSjV

Sachs, R. (2012). Persönlichkeitsstörungen verstehen. Zum Umgang mit schwierigen Klienten
(8. Aufl.). Bonn: Psychiatrie-Verlag. Schneider, F., Erhart, M., Hewer, W., Loeffler, L. AK & Jacobi, F. (2019). Mortalitiy and medical comorbidity in the severely mentally ill – a German registry study. Dtsch Arztebl Int, 116,405-11. DOI 10.3238/arztebl.2019.0405

Sozialministerium Baden-Württemberg (2018). Landesplan der Hilfen für psychisch kranke Menschen in Baden-Württemberg (Landespsychiatrieplan). Zugriff am 21.07.2021 unter https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEw
i3vrXpk_TxAhXNyaQKHWMsA_4QFjAPegQIEhAD&url=https%3A%2F%2Fsozialministeriu
m.baden-wuerttemberg.de%2Ffileadmin%2Fredaktion%2Fm sm%2Fintern%2Fdownloads%2FPublikationen%2FLandesplan_Hilfen_psychisch_kranke
_Menschen_Landespsychiatrieplan_2018_bf.pdf&usg=AOvVaw2R3JCEy7Y0RiKhsnD9KE
dG

Utschakowski, J. Sielaff, G., Bock, T. & Winter, A. (Hrsg.). (2016). Experten aus Erfahrung.
Peerarbeit in der Psychiatrie.