Zwangserkrankungen: Nur wer die Wurzel kappt, löst das Problem…

Was hält den Zwang am Leben? Viele Betroffene, bei denen sich die Zwangsstörung chronifiziert hat, stellen sich diese Frage. Denn oftmals geben die Zweifel trotz hinreichender Medikation und einer intensiven Psychotherapie keine Ruhe. Scheinen sie einmal besiegt zu sein, kommen sie nicht selten nach einiger Zeit zurück. Natürlich wären sie keine Zwänge, würden sie es aufgeben, unseren Kopf zu drangsalieren. Dennoch bewegt mich die Überlegung, welcher Misthaufen in unserer Seele vor sich hin brodelt und es verhindert, dass unsere Psyche sich einmal entspannen kann. Die unterschiedlichen Erklärungsansätze aus der Verhaltenstherapie befriedigen mich nur bedingt, immerhin liefert das Gedankenmodell der Konditionierung, wonach sich ein neutraler Reiz mit einem angstauslösenden Ereignis zu einem negativ konnotierten Gedanken verbindet und in der Folge durch den Betroffenen immer wieder zu neutralisieren versucht wird, nur unzulängliche Aussagen darüber, warum bestimmte Menschen für diesen Prozess anfällig sind und er bei ihnen operant bleibt. Auch die lerntheoretischen Begründungen, die davon ausgehen wollen, dass Zwänge auf behavioralem Verhalten fußen – sodass Menschen vom Seelenleben losgelöst eine Automatisierung erleben, welche sich in der furchtsamen Bewertung von objektiv normalen Impulsen zeigt –, scheinen mir ungenügend zu sein. Zwar erklären sie die Entstehung dieses Handlungsmusters durch verschiedene Auslösefaktoren wie dysfunktionale oder moralische Glaubenssätze. Dennoch bleibt auch hier die Möglichkeit, wonach es für die Fortdauer einer Zwangserkrankung eine Wurzel gibt, letztlich vollkommen unbeachtet. Insofern erachte ich auch die rein auf Konfrontation ausgerichtete Psychotherapie, die das Reaktionsmanagement des Betroffenen regulieren soll, ebenso wie das Habituationstraining, welche lediglich symptomorientiert auf einen Gewöhnungseffekt abzielt, als nicht ausreichend genug, um die Komplexität der Erkrankung zu erfassen.

 

Wer mich kennt, weiß um meine besondere Beziehung zur psychodynamischen Sichtweise. Ich befürworte diese psychotherapeutische Schule auch deshalb, weil ich der festen Überzeugung bin, dass nicht allein biochemische Zuschreibungen genügen, um den Erhalt von Zwängen zu rechtfertigen. Es gibt Hinweise darauf, dass neurotische Störungsbilder nur deshalb aufrechterhalten bleiben, weil sie durch verschiedene Stressoren befeuert werden. Und letztlich zeigen sich bei Betroffenen unter genauerem Hinsehen zahlreiche Konflikte im Unterbewusstsein, die unverarbeitet ein Stillleben führen, das die Entstehung und Verfestigung psychischer Krankheiten katalysiert. Denn solange in uns eine Glut glimmt, genügt der Hauch eines hektischen Alltags, um neue Flammen zu entfachen. Seelische Erkrankungen nehmen die Funktion ein, uns auf diese vergessen geglaubten Verwundungen in unserem Inneren hinzuweisen und uns aufzufordern, an ihrer Heilung zu arbeiten. Für viele Menschen ist dies ein unangenehmer Gedanke, denn wie oft möchten wir uns vor Vergangenem säumen und lehnen es ab, in der eigenen Biografie zu graben. Auch gegenwärtige Probleme schieben wir gern beiseite – nicht nur deshalb, weil es heutzutage kaum mehr in das Gesellschaftsbild passt, verletzlich zu sein. Die Befassung mit früheren oder aktuellen Belastungen nimmt uns Zeit und strengt uns an, weshalb wir sie lieber unterdrücken. Gerade in einer Epoche des Perfektionismus passt es nicht, Schwächen zuzugeben. Trotzdem – und gerade deshalb – lohnt es sich, einige Kraft im Hier und Jetzt aufzuwenden, um den Widerstreit in unserer Seele anzusehen, statt mit ihm in ständiger Verborgenheit durch das Leben zu wandeln und wiederkehrend von Zwängen heimgesucht zu werden.

 

Doch was können nun diese zugeschütteten Auseinandersetzungen in uns sein, die wir nur dann lösen können, wenn wir uns an die Wurzel wagen und sie kappen? Zwanghaftes Verhalten und Denken ist ein sinnbildlicher Ausdruck für Unfreiheit. Daher sind oftmals Einengungen und Abhängigkeiten im Alltagsleben eine mögliche Ursache für das Weiterbestehen der Erkrankung. Neben rigiden Normenvorgaben in der Erziehung können auch derzeitige Angewiesenheiten in Frage kommen: Ob das Dasein im Zwang von Sozialleistungen, in familiären Banden, im unzufriedenen Beschäftigungsverhältnis oder im ungelebten Lebenstraum – unser Liberalismus wird immer häufiger von Unmündigkeit beschnitten. Sich aus der Knechtschaft von Obsessionen zu entsagen, kann für viele Betroffene nicht nur einen Zugewinn von existenzieller Qualität bedeuten. Auch die Wahrscheinlichkeit, wonach sich das Krankheitsbild rückbildet, stehen dann recht gut. Nahezu bei jedem Betroffenen sind Zwänge auch ein Ausdruck vernachlässigter oder nicht wahrgenommener Emotionen. In uns schlummern jederzeit gegenläufige Gefühlsströmungen, die im schlechtesten Fall unbemerkt unter der Oberfläche ihre Kämpfe austragen. Dass Erkrankte der Zwangsstörung oft Schwierigkeiten damit haben, Aggressionen zu zeigen oder auch Empathie zu äußern, dürfte hinlänglich bekannt sein. Daher ist es wichtig, die affektive Schwingungsfähigkeit zu praktizieren. Denn nur ausgelebte Empfindungen wirken befreiend und entlastend. Und nicht zuletzt finden sich bei vielen Erkrankten Persönlichkeitsstrukturen als antreibender Motor für die Zwänge. Häufig sind es antiquierte Wertegerüste, welche schon in Kindheit aufoktroyiert wurden und seitdem nicht mehr hinterfragt worden sind, die einen Verhaltenskodex konservieren, welcher unbedingt in der Lage ist, in den Gesang der Erkrankung einzustimmen und sie lebendig zu halten.

 

Zusammenfassend wird deutlich: Damit eine Zwangserkrankung aktiv bleiben kann, braucht sie Nahrung. Gerade, wenn wir uns darauf fokussieren, allein die äußerlich sichtbaren Zeichen der Störung zu verarzten, wabert es in unseren Tiefen weiter. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie anspruchsvoll es ist und welche Überwindung es braucht, sich den verdeckten Abläufen unserer Seele zu stellen. Doch ich kann auch berichten, dass sich die Mühen durchaus auszahlen: Ich bin der Meinung, dass sich meine Zwänge mittlerweile vor allem deshalb stabilisiert haben, weil ich mein Wesen aufgeräumt habe. Insofern ermutige ich Mitpatienten, sich der Strapaze einer intensiven Aufbereitung von möglichen Beweggründen zu öffnen und damit letztlich den Weg zu ebnen, um nachhaltige Besserung der Symptomatik zu erzielen. Denn wer schon einmal längere Zeit unter den Kräfte zehrenden Zwängen gelitten hat, wird anerkennen können, dass ein großer Input nötig und angemessen ist, um schlussendlich zu einem gewinnbringenden Outcome zu kommen.

 

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