„Hilfen für psychisch erkrankte Menschen“ Stellungnahme und Empfehlungen ans Bundesministerium

Das Bundesministerium für Gesundheit beruft eine sogenannte Dialoggruppe mit 30 ständigen Mitgliedern (darunter auch Selbsthilfeorganisationen), welche in regelmäßigen Treffen (Foren) die Regierung bei der Weiterentwicklung der Hilfen für psychisch erkrankte Menschen beraten und unterstützen

Auch Vertreter unseres Bundesnetzwerks Selbsthilfe seelische Gesundheit (NetzG e.V.) nehmen daran teil.  Wir haben hier eine kleine Übersicht dargestellt, welche Empfehlungen oder Hinweise von uns als „Betroffene“  an unsere Regierenden beim letzten Dialogforum im Juni 2019 ergingen:

Die psychiatrische Behandlung und Versorgung ist an den individuellen Bedürfnissen und Barrieren des psychisch erkrankten Menschen auszurichten. Maßstab für das gesamte Versorgungssystem müssen die Konzepte von Recovery und Empowerment sein.

  1. Das von der Selbsthilfe entwickelte Recovery-Konzept versteht unter „Recovery“ (dt. Gesundung, Genesung) einen persönlichen, ganzheitlichen, individuellen Entwicklungsprozess, zu dem die Verarbeitung des Krankheitserlebens ebenso gehört wie die Entwicklung von neuen Lebensperspektiven. Mitarbeitende der psychiatrischen Versorgung haben die Aufgabe, diesen Prozess bedarfsgerecht stützend zu begleiten. Dabei geht es ausdrücklich nicht nur um eine Symptomreduktion oder -remission. Stattdessen steht der psychisch erkrankte Mensch in seinen gesamten Lebensbezügen im Mittelpunkt. Ambulante, im Sozialraum verankerte Unterstützungsangebote sind deshalb zu stärken und flächendeckend auch für schwer psychisch erkrankte Menschen vorzuhalten
  2. Psychisch erkrankte Menschen haben das Recht, selbstbestimmt über ihr Leben und über ihre medizinisch-therapeutische Behandlung und Versorgung zu entscheiden. Von diesem Grundsatz darf nur innerhalb der rechtlich festgelegten Grenzen kurzfristig abgewichen werden, um akute Gefahren abzuwehren. Im Kern muss die psychiatrische Versorgung daher darauf abzielen, den psychisch erkrankten Menschen so weit möglich zur Wahrnehmung seiner Autonomie zu befähigen und seine ggf. krankheitsbedingt eingeschränkten Handlungs- und Entscheidungsspielräume wieder zu vergrößern („Empowerment“).
  3. Eine an Recovery und Empowerment ausgerichtete psychiatrische Versorgung benötigt das Expertenwissen der Betroffenen. Menschen mit der Erfahrung psychischer Erkrankung und deren Angehörige müssen auf allen Ebenen einbezogen werden. Dazu gehört unbedingt der Einsatz von so genannten (Angehörigen-) „Peers“ (EX-IN) in der unmittelbaren Versorgung, denn sie leisten einen unverzichtbaren, niedrigschwelligen Übersetzungsbeitrag zur bedürfnisorientierten Qualität zwischen dem erkrankten Menschen und den Behandlern bzw. Versorgern. 

Empfehlungen: 

Um eine zeitgemäße psychiatrische Versorgung und Behandlung zu realisieren, bedarf es insbesondere

 

  • einer Grundhaltung des Respekts vor dem psychisch erkrankten Menschen;
  • einer zwang- und gewaltfreien Atmosphäre und Handlungsweise ohne Zeitdruck;
  • einer Einbeziehung des sozialen Umfelds (Angehörige, Freunde, Nachbarschaft) auf Wunsch des Betroffenen;
  • der Vorhaltung einer rund-um-die-Uhr erreichbaren, nach Möglichkeit niedrigschwelligen ambulanten Krisenhilfe unter Beteiligung von (Angehörigen-)Peers;
  • umfassender individueller Unterstützungsangebote, die leistungs-/kostenträger-/sektorenübergreifend konzipiert, einzelfallbezogen koordiniert und bedarfsgerecht flexibel gestaltet bzw. angepasst werden (ambulante Komplexleistung);
  • einer Betreuungs- und Behandlungskontinuität über verschiedene Settings hinweg;
  • einer Aufwertung der Berufsgruppe der (EX-IN) Genesungsbegleiter (ideell und finanziell), die einher geht mit der bedarfsgerechten Weiterentwicklung und Standardisierung entsprechender Ausbildungsinhalte;
  • der Sensibilisierung und regelhaften Fortbildung des professionellen Personals, sowie der Neu-Akzentuierung der Ausbildung durch Einbezug von (Angehörigen-)Peers;
  • der informierten Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Behandlungs- und Versorgungsmöglichkeiten und der professionellen Akzeptanz ggf. konträrer Entscheidungen;
  • der Unterstützung bei der Entwicklung individueller Vorsorgestrategien, wie beispielsweise einer Behandlungsvereinbarung, einer Vorsorgevollmacht etc.;
  • einer verbindlichen, gesetzlich festgeschriebenen Beteiligung der Selbsthilfe an der Konzeption, Evaluation und Weiterentwicklung des Versorgungssystems.

Im Mai 2019 Hermann Stemmler, NetzG e.V.