Psychiatrieerfahrene als Gruppe mit schwachen Interessen

Können sich Psychiatrieerfahrene selbst organsieren und sich selbst für ihre Interessen einsetzen? Zu diesen Thema veröffentlichen wir hier einen lesenswerten Buchbeitrag unseres Vorstandsmitgliedes Rainer Höflacher.  Diese Buch erscheint 2019. Wir stellen den Text auch unten auf der Seite zum Download zur Verfügung.

Psychiatrieerfahrene als Gruppe mit „schwachen Interessen“
Rainer Höflacher

Auszug aus: Toens, Katrin /Benz, Benjamin 2019: Schwache Interessen? Politische Beteiligung in der Sozialen Arbeit. Weinheim /Basel: Beltz Juventa (erscheint voraussichtlich Frühjahr 2019).

Seit Anfang der 1990er Jahre haben psychiatrieerfahrene Menschen begonnen, sich in Verbänden zu organisieren. Anlass war eine große Unzufriedenheit mit den psychiatrischen Hilfen. Das Engagement für eine gewaltfreie Psychiatrie und eine medikamentenkritische Haltung waren die Themen, die alle miteinander verbanden. Anfänglich bestand bei den professionell Tätigen große Skepsis, ob Psychiatrieerfahrene in der Lage sind, sich zu organisieren und sich kontinuierlich und zielorientiert für ihre Interessen einzusetzen. Manche sprachen es Ihnen grundsätzlich ab.

Ein weiterer Grund für die Zusammenschlüsse Psychiatrieerfahrener war das Gefühl in der Psychiatrie nicht gehört zu werden und unter anderem aufgrund großer Stigmatisierung nicht zu ihrem Recht zukommen. Schon damals bestand also die Erkenntnis, dass die Interessen der Psychiatrieerfahrenen eine Stärkung benötigen.

Sichtbar ist heute, dass es nicht viele Psychiatrieerfahrene gibt, die bereit bzw. in der Lage sind, sich für die Interessen psychisch erkrankter Menschen über ihre eigenen Anliegen hinaus einzusetzen. Es gibt inzwischen sehr viele Selbsthilfegruppen zum Thema seelische Gesundheit. In den Großstädten gibt es sie für nahezu jedes psychiatrische Krankheitsbild. Allerdings gelingt es nur wenigen Gruppen über die Innensicht hinaus nach außen zu wirken, d.h. den Willen zu entwickeln, die psychiatrischen und psychosozialen Hilfen zu verbessern und politisch tätig zu werden.

Sicherlich gibt es inzwischen auf Bundesebene und in fast allen Bundesländern Verbände psychisch erkrankter Menschen. In der Regel haben diese aber nicht die Wirkung, wie es der Anzahl der Psychiatrieerfahrenen in Deutschland entspräche. Meistens hängt die politische Arbeit von nur wenigen Engagierten ab und es ist schwer, Menschen für diese Art von Arbeit zu gewinnen.

Was hindert psychiatrieerfahrene Menschen also daran, sich gesundheitspolitisch zu engagieren?

An erster Stelle ist hier die Angst zu nennen, sich öffentlich zur Erkrankung zu bekennen. Vor allem, wenn Betroffene noch auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt sind, haben sie mit Nachteilen zu rechnen. Arbeitgeber scheuen sich, psychiatrieerfahrene Menschen einzustellen, da sie diese für wenig leistungsfähig und schwierig ansehen. Sie wissen nicht, dass dies nicht für alle Menschen mit seelischen Problemen gilt und diese auch sehr gute Arbeitsergebnisse erzielen können, ja in der Regel motivierter sind, als viele ihrer Kollegen. Somit lassen sich viele Betroffene erst gar nicht darauf ein, sich öffentlich einzusetzen. Es ist nicht möglich wirksam politisch zu arbeiten, ohne sich als Psychiatrieerfahrener zu erkennen zu geben.

Neben der Stigmatisierung besteht durch die sogenannte Selbststigmatisierung eine mindestens ebenso große Hemmung nach außen die Betroffenheit zu zeigen. Aufgewachsen in einer stigmatisierenden Gesellschaft haben Betroffene dieselben Vorbehalte und Vorurteile gegenüber psychisch Erkrankten verinnerlicht und schämen sich oft dafür, seelisch erkrankt zu sein und haben ein vermindertes Selbstwertgefühl. Sie empfinden es als Defizit und Makel. Nicht selten sind Menschen mit seelischen Problemen durch Selbststigmatisierung stärker belastet, als durch Diskriminierung und Ausgrenzung von außen. Neben der Erkrankung haben viele von ihnen Demütigungen und Scheitern erlebt, die ihnen Kraft, Eigeninitiative und Mut genommen haben. Erst nach einem längeren Weg der Selbstbefähigung und der Selbstermächtigung gelingt es manchen, sich frei zu machen, ein selbstbestimmtes und selbstbewusstes Leben zu führen, und sich dann auch entsprechend öffentlich zu engagieren.

Nicht selten sind Interessenvertreter berentet, da sie dadurch unabhängig vom Arbeitsmarkt werden und weniger vorsichtig sein müssen, offen mit ihren seelischen Problemen umzugehen. Auch ist es ihnen gut möglich, die verschiedenen Arbeitsgruppen und Gremien zu besuchen, die fast immer während der üblichen Arbeitszeiten stattfinden. Berufstätigen Menschen ist so in der Regel von vorne herein verwehrt, sich als Interessenvertreter zu engagieren. Im Prinzip schaffen diese Energieleistung nur wieder vollständig gesundete Psychiatrieerfahrene.

Und dies führt dann zum nächsten Punkt, warum es so wenige Interessenvertreter gibt. Die Arbeit als Interessenvertreter setzt eine gewisse psychische Stabilität voraus. Vor allem Menschen, die ihre Erkrankung überwunden haben, eignen sich in besonderer Weise für diese Aufgabe. Es zeigt sich aber, dass gerade diese Gruppe oft nichts mehr vom psychiatrischen Hilfesystem wissen will. Diese Personen sind froh, dass sie ihre Erkrankung hinter sich gelassen zu haben und meiden alles, was irgendwie mit Psychiatrie zu tun hat. Auch hier spielt das negative öffentliche Image der Betroffenen eine große Rolle.

So kommt es, dass viele psychiatrieerfahrene Interessenvertreter noch durch ihre Erkrankung eingeschränkt sind und nur bedingt die Anforderungen an ihre Tätigkeit erfüllen können. Ihre Symptome behindern sie in unterschiedlicher Weise. Diese Menschen sind dann weniger belastbar, weniger zuverlässig und schaffen es oft nicht kontinuierlich zu arbeiten.

Zudem liegt es nicht jedem Psychiatrieerfahrenen, stundenlang an Gremien teilzunehmen, ohne dass ein direkt sichtbarer Erfolg erkennbar ist. Lobbyarbeit ist ein langwieriger Prozess und oft sind die eigenen Interventionen im vielstimmigen Konzert der Interessen kaum wieder zu finden. Es dauert auch lange, bis man sich in der Welt der professionell Tätigen zurechtgefunden hat, die durch Fachsprache und diverse Abkürzungen geprägt ist, die zuerst einmal gelernt sein wollen.

Und nicht zuletzt haben viele der psychiatrieerfahrenen Menschen aufgrund ihrer Erkrankung einen sozialen Abstieg hinter sich und leben von nur geringen Einkommen. Die Arbeit als Interessenvertreter wird allerdings nur sehr selten vergütet, und wenn, dann nur mit kleinen Aufwandsentschädigungen. Während die Fachkräfte in ihrer Arbeitszeit an den Sitzungen teilnehmen und dafür gut bezahlt werden, nehmen die Betroffenenvertreter fast immer ehrenamtlich unbezahlt teil. Hier ist eine Professionalisierung im Sinne der sozialen Anerkennung, Verbesserung von Rahmenbedingungen, u.a. durch Finanzierung, der politischen Arbeit unbedingt erforderlich, wenn die Interessenvertreter den Fachpersonen ebenbürtige Partner sein sollen.

Im Moment gibt es die Entwicklung, dass Psychiatrieerfahrene in der Psychiatrie als bezahlte Kräfte in der Begleitung von seelisch belasteten Menschen arbeiten. Seit 2005 gibt es die Qualifizierungsmaßnahme EX-IN, diese Abkürzung für „Experienced Involvement“ lässt sich mit „Beteiligung von Erfahrenen“ übersetzen. Die EX-IN-Kurse qualifizieren seelisch erschütterte Menschen zu zertifizierten Genesungsbegleitern, die im Bereich der Psychiatrie bezahlt arbeiten. EX-IN kann als Erfolgsgeschichte bezeichnet werden. Inzwischen gibt es über 30 Städte in Deutschland in denen EX-IN-Kurse angeboten werden. EX-IN ist in der Fachwelt angekommen und in weiten Kreisen bekannt.

Durch EX-IN entsteht nun eine neue Gruppe von Menschen mit seelischen Problemen, die die Psychiatrie beeinflussen. Die politische Wirkung ist hier noch schwer zu bewerten, da Genesungsbegleiter teilweise keinen psychiatriepolitischen Anspruch haben. Ihre Aufmerksamkeit liegt bei der konkreten Unterstützung für Einzelne und weniger in dem Wunsch das System Psychiatrie zu verändern. Jedoch hat EX-IN unbestreitbar das Image von Psychiatrieerfahrenen verbessert. EX-IN vermittelt, dass Psychiatrieerfahrene auch leistungsfähig und selbstbewusst sein können und für die Gesellschaft einen nachweisbaren Nutzen erbringen.

EX-INler sind meist nicht mehr so stark von seelischen Krisen betroffen und wären eine starke Gruppe, um die Interessen von Psychiatrieerfahrenen zu vertreten. Sie könnten vor allem innerhalb des Systems eine Weiterentwicklung der Psychiatrie bewirken. Aber selbst wenn Genesungsbegleiter die Strukturen der Psychiatrie verbessern wollen, können sie das nur eingeschränkt, da sie nicht so unabhängig sind, wie die Interessenvertreter, die nicht bei psychiatrischen oder psychosozialen Trägern angestellt sind. Genesungsbegleiter sind Mitarbeiter und an die Weisungen ihrer Vorgesetzten gebunden. Somit sind die tatsächlichen Möglichkeiten reduziert und es kann ein Loyalitätskonflikt gegenüber dem Arbeitgeber entstehen.

Es ist weiter zu beobachten, inwiefern EX-IN politische Positionen und Wirksamkeit entwickelt. Momentan herrscht hier noch ein heterogenes Bild, wie EX-IN zu ganz bestimmten Themen steht, die den politischen Diskurs beherrschen. Allerdings ist EX-IN durchaus aus einer Unzufriedenheit mit den psychiatrischen Hilfen entstanden und steht für eine trialogische, empowerment- und recoveryorientierte Haltung, die sich aber erst noch am konkreten politischen Engagement zeigen muss.

Festzuhalten bleibt, dass es viele Hemmnisse gibt, die Psychiatrieerfahrene dazu veranlassen, Lobbyarbeit für sich gar nicht erst in Betracht zu ziehen oder sich bewusst gegen sie zu entscheiden. Hier liegt die Wurzel des Übels, denn zu allererst braucht es Menschen, die sich für ihre Anliegen selbst einsetzen. Alle anderen Bemühungen werden ins Leere laufen, wenn Menschen mit Erfahrungen schwerer seelischer Krisen die Dinge nicht selbst in die Hand nehmen.

Auch Fachpersonen, Angehörige von psychisch erkrankten Menschen und der selbst nicht direkt betroffene Bürger können einiges dazu tun, um die Interessen von psychiatrieerfahrenen Menschen zu stärken. Sie alle können dazu beitragen, dass Psychiatrieerfahrung nicht automatisch mit Gewalt assoziiert wird und dass bei der Bevölkerung das Bewusstsein entsteht, dass Psychiatrieerfahrene ganz unterschiedlich sind und negative Verallgemeinerungen für viele Psychiatrieerfahrene nicht gelten. Es wäre schön, wenn es genauso populär wäre, sich öffentlich für psychiatrieerfahrene Menschen einzusetzen, wie zum Beispiel für Kinder oder krebserkrankte Menschen.

In der Politik geht der Trend hin zu mehr Beteiligung im Gesundheitswesen und davon profitieren auch psychiatrieerfahrene Menschen. Dies merkt man bei Gesetzgebungsverfahren, wie beim Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz in Baden-Württemberg oder beim Bundesteilhabegesetz, wo Betroffene maßgeblich eingebunden wurden. Ebenso werden Psychiatrieerfahrene immer häufiger als Referenten bei Tagungen und Seminaren angefragt und bereiten diese mit vor. Leider haben Psychiatrieerfahrene innerhalb der Selbsthilfe gegenüber den körper- und sinnesbehinderten Menschen einen schlechten Stand. Diese bringen ihre Themen mit Nachdruck ein. Psychiatrieerfahrene haben teilweise aber andere, unsichtbare Barrieren und so stehen sie gegenüber den anderen Behinderungsarten zwischen Solidarität und Selbstbehauptung. Allerdings kann man den Psychiatrieerfahrenen auch zum Vorwurf machen, dass sie lange nur innerhalb der Psychiatrie aktiv waren und die Behindertenhilfe vernachlässigt haben. Es ist eben oft ein frustrierendes Erlebnis, wenn man an solchen Sitzungen teilnimmt, wo es viel um Themen geht, die Psychiatrieerfahrene nicht betreffen.

Die Frage ist jetzt was getan werden kann, um die “schwachen Interessen” psychiatrieerfahrener Menschen zu stärken. Dazu drei Ideen:

  • Auch um die Wirkung der Wortmeldungen der Psychiatrieerfahrenen zu erhöhen, ist es durchzusetzen, dass die Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen beendet wird. Schulprojekte, Filme und Artikel in Zeitungen und Zeitschriften sind dabei von Bedeutung. Vor allem Initiativen, die darauf achten, dass Begegnung zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen entsteht, wirken Vorurteilen, Diskriminierung und Ausgrenzung am besten entgegen.
  • Darüber hinaus sollte der Empowermentansatz intensiver gefördert werden. Dieser hat unter anderem das Ziel, die Eigeninitiative und das Engagement der Betroffenen zu stärken, damit sich diese von Fremdbestimmung frei machen und sich in gesellschaftliche Entwicklungsprozesse einmischen. Wenn dies gelänge, würden sich mehr Psychiatrieerfahrene mutiger und engagierter für ihre Interessen einsetzen und das Durchsetzungsvermögen dieser Gruppe würde sich vergrößern.
  • Eine weitere Maßnahme zur verbesserten Mitwirkung Psychiatrieerfahrener wäre die bessere Unterstützung deren Selbstvertretungen. Wichtig ist es, dass die Fachpersonen innerhalb ihres Wirkungskreises Betroffene für das politische Engagement motivieren, aber vor allem, dass die Betroffenenverbände finanziell mehr gefördert werden. Im Vergleich zu anderen Gruppen aus dem Bereich der Körper- und Sinnesbehinderung, haben die Psychiatrieerfahrenen einen sehr geringen Professionalisierungsgrad, was nicht zuletzt daran liegt, dass fast alle Engagierten bei ihnen ehrenamtlich arbeiten müssen. Gerade leistungsstarke und kompetente Psychiatrieerfahrene sind gezwungen, ihren Lebensunterhalt zu sichern und können nicht in der Selbsthilfe arbeiten.

Das Fazit ist, dass vor allem die Schwierigkeiten auf der individuellen Ebene der Psychiatrieerfahrenen angegangen werden müssen. Es müssen mehr Psychiatrieerfahrene gefunden werden, die sich als Interessenvertreter engagieren und organisieren. Ihnen muss dieser Weg erleichtert werden, denn das Engagement der Betroffenen ist die wirksamste Quelle für Veränderung.

Den gesamten Text können Sie hier downloaden:

Buchauszug ‚PE als Gruppe mit schwachen Interessen‘ von Rainer Höflacher.